Nationale Koordination Seltene Krankheiten
Coordination nationale des maladies rares
Coordinamento nazionale malattie rare
Coordination Rare Diseases Switzerland

Interview Prof. Dr. Marianne Rohrbach

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Bild und Interview: Universitätskinderspital Zürich

Sie beschäftigen sich schon viele Jahre mit seltenen Krankheiten im Bereich Stoffwechselkrankheiten bei Kindern. Wie kam es dazu?

Über die Facharztausbildung Genetik sowie Kinder und Jugendmedizin bin ich vor über 20 Jahren in der Stoffwechselmedizin angekommen, wo wir hauptsächlich Patient:innen mit seltenen und ultraseltenen Stoffwechselkrankheiten betreuen. Seltene Krankheiten gibt es jedoch in sämtlichen Fachbereichen. Eine spezifische Facharztausbildung dazu existiert nicht, weil es ein übergreifendes Thema ist. Die Arbeit im Bereich der seltenen Krankheiten ist einerseits eine grosse Herausforderung, aufgrund der Schicksalsgeschichten der Familien, mit all den vielen Hürden in Diagnostik und Therapie. Anderseits ist es ein spannendes, pulsierendes Gebiet, in dem wir noch Vieles erwarten können.

Was sind in Ihren Augen die grössten Herausforderungen in diesem Feld?

Für die Forschung, aber vor allem auch für die Praxis. In der Praxis eines Kinderarztes oder einer Hausärztin ist nicht nur das frühe Erkennen von seltenen Krankheiten eine grosse Herausforderung, sondern auch die Entscheidung, welche ersten diagnostischen Abklärungsschritte für welche Krankheit indiziert sind. Zusätzlich sind die ersten klinische Symptome bei seltenen Krankheiten oft sehr unspezifisch und deshalb nicht einfach zu erkennen. Daneben steht dem Hausarzt bzw. der Kinderärztin bedingt durch die Tarmedregulierung für Konsultationen in der Praxis nur sehr wenig Zeit pro Patient:in zu, was zusammen mit dem Fachkräftemangel nicht förderlich ist für die Früherkennung von seltenen Krankheiten. Andere Herausforderungen sehen wir bei der Zulassung von neuen Medikamenten für seltene Krankheiten. Dort können in klinischen Studien häufig nur sehr wenige Patient:innen, welche teilweise auf verschiedenen Kontinenten verstreut sind, eingeschlossen werden. Klinische Studienzentren sind für die Patient:innen häufig aus geographischen Gründen nicht erreichbar. Anderseits gibt es möglicherweise auch Patient:innen mit seltene Krankheiten, die an keiner Zentrumsklinik bekannt sind und so von Studien oder Routine Betreuung noch nicht profitieren können. Diese Lücke soll unter anderem mit der Einführung des Schweizerischen Registers für seltene Krankheiten (SRSK) geschlossen werden, bei welchem nicht nur Kliniken und Ärzt:innen Patient:innen registrieren können sondern für die Patient:innen auch eine Selbstregistrierung möglich ist. Schon heute sind niedergelassenen Ärzt:innen, Universitätskliniken und die Forschung bestrebt, Hand in Hand zu arbeiten, um noch frühere Diagnosestellungen zu erreichen und wenn immer möglich individualisierte Therapien zur Verfügung zu stellen.

Die Diagnose seltener Krankheiten erfordert Fachwissen. Das Knowhow ist international verteilt. Wie bleiben Sie auf dem neusten Stand?

Bedingt durch die hohe Anzahl an seltenen Krankheiten welche fast alle Fachspezialgebiete betrifft, sind die Zusammenarbeit in multidisziplinären Netzwerken sowie die nationale und internationale Vernetzung von grosser Bedeutung. In der Schweiz helfen, Strukturen mit Referenzzentren und Referenz Netzwerken koordiniert durch die Nationale Koordination Seltene Krankheiten (kosek) das Wissen zu stärken und zu bündeln. Patient:innen in der Schweiz stehen diese Strukturen für den Stoffwechselbereich bereits zur Verfügung; Zusammen mit den 3 Referenzzentren Zürich, Bern und Lausanne sind weitere assoziierte Kliniken (zb. Basel, Luzern Chur, Winterthur) sowie Kinderarztpraxen und Patientenvereinigungen in einem Netzwerk verbunden mit gemeinsamen Weiterbildungen etc.

Oft heisst es bei den Besuchen beim Kinderarzt «warten wir mal ab». Wie kann man verhindern, dass wertvolle Behandlungszeit verloren geht aufgrund von fehlender Sensibilisierung bei zuweisenden Kinder- und Hausärzten? Wie steht es um die Sensibilisierung der Zuweiser in der Schweiz?

Da die ersten Symptome bei seltene Krankheiten häufig sehr unspezifisch sind, d.h. auch bei nicht seltene Krankheiten auftreten können, ist es für die Kinderärzt:innen oft schwierig, dies zu filtern. Anderseits sehen sie so viele und auch gesunde Kinder für die regulären Entwicklungskontrollen. Dies erlaubt es Ihnen, ein gutes Gespür dafür zu haben und Kinder zu erkennen, die sich ausserhalb der Norm entwickeln. Hier gilt es nun gezielt die Kinder herauszufiltern, die allenfalls eine Kombination von unspezifischen Symptomen haben, die in Richtung seltene Krankheit weisen könnte. Die Sensibilisierung der zuweisenden Ärzt:innen hat sich in der Schweiz in den letzten Jahren deutlich erhöht. Durch regelmässige Weiterbildungen, Awarnesskampagnen wie z.B. der Tag der seltenen Krankheiten und weitere Aufklärungsarbeit zu aktuellen Forschungsergebnissen gelingt es immer besser, betroffene Kinder frühzeitig an Spezialisten zur Weiterabklärung zu überweisen.

Gestellte Diagnosen sind eine grosse Herausforderung für die betroffenen Familien. Nicht nur aufgrund des Befundes beim betroffenen Kind, sondern auch wegen weiterreichender Konsequenzen für Geschwister und Eltern – wie gehen Sie damit als behandelnde Ärztin um?

Im Wissen darum, dass eine Diagnosestellung häufig emotional belastend ist für die Familien ist nebst der medizinische auch eine psychologische Betreuung wichtig. In unserem Team haben wir deshalb   Kinderpsychologinnen mit Erfahrung im Umgang mit seltenen Krankheiten integriert. So gelingt es als interdisziplinäres Team besser, die emotionalen Konsequenzen abzufedern. Im Verlauf der Behandlung bietet wir immer wieder Gespräche an – für die ganze Familie oder einzelne Familienmitglieder. Dort wo es solche gibt, versuchen wir die betroffenen Familien mit Patientenorganisationen zu vernetzten. Darüber hinaus wird eine genetische Beratung – d.h. die Aufklärung über mögliche genetische Tests, deren Durchführung und Erklärung der Resultate – angeboten. Auch um allenfalls weitere betroffene Familienmitglieder zu identifizieren und zu beraten.

Die Möglichkeit zu genetischen Tests wächst fortwährend und wird immer besser finanzierbar – wieviel Sinn macht es in ihren Augen breiter zu screenen – bei Kindern, Geschwistern und Eltern?

Aktuell screenen wir mit dem Neugeborenen-Screening alle Babys in der Schweiz auf 10 behandelbare Krankheiten. Ein Pilot für eine weitere Krankheit – die spinale Muskelatrophie – startet im März dieses Jahres. Selektive Screenings bei Verdachtssymptomen arbeiten zusätzlich primär mit der Untersuchung von Biomarkern im Blut oder Urin, allenfalls mit spezifischen Enzymtests und vereinzelt auch direkt mit molekulargenetischen Analysen. Um Molekulargenetische Test durchzuführen sind meist eine Kostengutsprache der Krankenkasse und die Einwilligung der Eltern nötig. Ein flächendeckendes genetisches Screening – soll heissen über viele Menschen hinweg bzw. für ganz verschiedene Krankheiten gleichzeitig – ist deshalb heute in der Schweiz nicht möglich. Darüber hinaus bräuchte es eine sehr genaue Abgrenzung, nach welchen Krankheiten man screenen soll. Auch müsste vorab genau festlegt werden, wie man mit zufälligen Nebenbefunden umgehen würde. Das Potential ist sehr gross, es gilt aber zunächst, ein weites Feld an ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen zu klären.

Nicht alle möglichen Behandlungsansätze sind in der Schweiz zugelassen – kommt es vor, dass Sie Familien zu einer Behandlung im Ausland raten müssen?

Das gibt es zum Glück sehr selten. Mit sehr wenigen Ausnahmen stehen – gestützt auf Artikel 71a und 71b KVV – die meisten Behandlungen, welche im EU-Raum zugelassen sind, auch den pädiatrischen Patienten in der Schweiz zur Verfügung. Es kommt vor, dass wir einer (noch) experimentellen Therapie je nach individueller Prognose der Krankheit eher zurückhaltend gegenüberstehen. In Einzelfällen kann es sein, dass sich Eltern im Ausland eine Meinung einholen und ihr Kind dort behandeln lassen.

Was wünschen Sie sich für Ihre jungen Patient:Innen?

Wichtig ist, dass die betroffenen Familien Ihre Wünsche, Fragen und Anliegen uns gegenüber klar formulieren und wir Entscheide wann immer möglich gemeinsam treffen können. Nebst der enormen Belastung im Alltag soll eine gute Lebensqualität der Kinder und ihren Familien im Zentrum stehen sowie das Geniessen der wertvollen gemeinsamen Zeit.

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